Eine Leseempfehlung
Die Demokratie steckt in der Krise, so heißt es. Seit vielen Jahren sinke die Wahlbeteiligung. Die politischen Parteien kämpfen mit anhaltendem Mitgliederverlust und gerade bei jungen Menschen gelte das Engagement in einer Partei als besonders unattraktiv. Allüberall mache sich die sogenannte „Politikverdrossenheit“ breit. Die Menschen seien an der Demokratie nicht mehr interessiert.
Der belgische Historiker, Ethnologe, Archäologe und Schriftsteller David Van Reybrouck, geb. 1971 in Brügge, sieht das ganz anders. In seinem Buch „Gegen Wahlen – Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“ legt er den Fokus auf etwas, das heute völlig unkritisch als unabdingbare Basis jeder Demokratie verstanden wird.
Wahlen gelten heute als DAS demokratische Werkzeug schlechthin. Wo gewählt wird, herrscht Demokratie. Punkt. Für David Van Reybrouck sind Wahlen jedoch eher die Wurzel des Übels. Wahlen, wie wir sie heute kennen, wurden nach seiner Ansicht geschaffen, um damit wirkliche Demokratie zu verhindern.
Das ist starker Tobak. Doch Van Reybrouck zitiert dazu unter anderem aus dem bekannten Buch des französischen Politologen Bernard Manin mit dem Titel: „Principes du gouvernement représentatif (Kritik der repräsentativen Demokratie)“ aus dem Jahre 1995.
„Gegenwärtige demokratische Systeme sind aus einer politischen Ordnung hervorgegangen, die von ihren Begründern als Gegenentwurf zur Demokratie gedacht war.“
Der Autor kann mit weiteren Schriften, aktuelle und historische, diese Behauptung unterfüttern. Die von Bernard Manin angesprochene „politische Ordnung“ fußt wesentlich in der Zeit direkt nach der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Dort wurde der Grundstein für das heutige System gelegt, in dem eine politische Elite den Führungsanspruch für sich deklariert und diesen regelmäßig durch Wahlen legitimieren lässt. Mit allen bekannten Auswirkungen.
Van Reybrouck nennt dieses System eine repräsentative Aristokratie.
Die Alternative
Als Gegenentwurf zum heutigen Wahlsystem stellt David Van Reybrouck ein Instrument vor, das auf den ersten Blick kontraproduktiv und völlig weltfremd wirkt. Statt Kandidaten aus den parteidominierten Bewerberlisten auszuwählen, sollen die Mitglieder der Parlamente und Räte ausgelost werden. Statt karriereorientierten Berufspolitikern und fügsamen Parteisoldaten die Führung zu überlassen, werden Bürgerinnen und Bürger aus der Mitte der Gesellschaft in einem Losverfahren herangezogen und übernehmen für einen vorbestimmten Zeitraum die Regierungsverantwortung für ihr Land.
Das ist beileibe keine spinnerte Weltverbesserungsidee, die sich David Van Reybrouck da in seiner Schreibstube zusammenfantasiert hat. Die Führung eines Landes durch das Losverfahren zu bestimmen ist tatsächlich so alt wie die Demokratie selbst. Ganz der Historiker, beginnt Van Reybrouck in seinem Buch die Argumentationskette daher auch im Keller der europäischen Geschichte: Im antiken Athen.
Der griechische Stadtstaat im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. gilt heute als Wiege Europas und der Demokratie. Dort wurden die wichtigsten Organe der Regierung per Los besetzt. Der Rat der 500 (Boule), das Volksgericht (Heliaea) und die Magistrate (Archai). Wahlen waren die Ausnahme und wurden nur durchgeführt, um Positionen zu besetzen, die spezielle Kenntnisse erforderten. Zum Beispiel im Finanzwesen und beim Militär. Dort galt Erfahrung vor Ideologie.
Stichwort Ideologie; trotz Losverfahren war die athenische Demokratie nicht so rein und makellos, wie man es vermuten könnte. Nicht im Losverfahren berücksichtigt – und damit ausgeschlossen von Regierungsämtern – wurden Frauen, Minderjährige, Fremde und Sklaven. Trotzdem hielt sich das Prinzip der Auslosung in zahlreichen Variationen bis in die Renaissance. Der Paradigmenwechsel kam wie erwähnt mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution.
Die Blaupause für mehr Demokratie
Doch wie soll eine demokratische Regierung auf Basis des Losverfahrens nun funktionieren? David Van Reybrouck stellt dazu ausführlich den Entwurf des amerikanischen Forschers Terrill Bouricius aus dem Jahre 2013 vor. Bouricius greift in seiner „Blaupause“ auf das athenische Modell der Gewaltenteilung zurück, bei dem der Entscheidungsprozess über verschiedene Institutionen verteilt wird.
Der Entwurf von Terrill Bouricius sieht sechs Gremien vor:
- Agenda Council stellt die Agenda auf, wählt Themen für die Gesetzgebung
- Interest Panels schlagen themengebundene Gesetzgebung vor
- Review Panels machen Gesetzesvorschläge anhand des Inputs von Interest Panels und Experten
- Policy Jury stimmt über Gesetze ab; geheime Abstimmung nach öffentlicher Präsentation
- Rules Council entscheidet über die Regeln und Verfahren der gesetzgebenden Arbeit
- Oversight Council kontrolliert den Gesetzgebungsprozess, behandelt Beschwerden
Mit diesem Konstrukt soll ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung und ihrer Interessen berücksichtigt werden. Diese Regierung ist durch diese Aufteilung und der raschen Rotation ihrer Mitglieder auch gut gerüstet gegen Korruption und Machtkonzentration. Um die Bevölkerung für die Mitarbeit entsprechend zu motivieren, ist zudem für jeden teilnehmenden Bürger eine angemessene Bezahlung vorgesehen. Wirtschaftliche Zwänge sollen keine Gründe liefern, die Mitarbeit im jeweiligen Gremium zu verweigern.
Es wäre ein Bruch mit den aktuellen Machtverhältnissen, die primär von den politischen Parteien bestimmt werden. Als Übergangslösung schlägt David Van Reybrouck daher eine birepräsentative Demokratie vor, in der gewählte Parteimitglieder und ausgeloste Bürgergremien gleichberechtigt zusammenarbeiten.
Die Parteien müssten sich dazu praktisch selbst entmachten. Sie müssten zulassen, dass Bürgerinnen und Bürger ohne Parteibuch und ohne „Stallgeruch“, vorbei an der internen Karriereleiter, einfach so in Regierungsverantwortung kommen.
Ob das Modell einer echten repräsentativen Demokratie jemals wieder verwirklicht werden kann? Gemessen am Zeitraum, in dem das Losverfahren angewendet wurde, ist das heutige Wahlverfahren geradezu neumodischer Kram. Seine demokratischen Defizite lassen sich inzwischen nicht mehr ignorieren. Es wird Zeit darüber öffentlich zu reden.
David Van Reybrouck
„Gegen Wahlen – Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“ (2013)
Deutsche Ausgabe: Wallstein Verlag, Göttingen 2016
ISBN: 978-3-8353-1871-7
198 Seiten, ca. 17,90 EUR
Der Verfasser dieser Zeilen steht in keinerlei Beziehung zum Buchautor oder zum Verlag.
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Hinweis: Dieser Beitrag ist lediglich ein Informationsangebot und keine offizielle Aussage der Piratenpartei Deutschland oder des Kreisverbandes Duisburg.